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02.01.2023

Silvester mit Flüchtenden aus der Ukraine: Sehnsucht nach Frieden

Dankbar für die Schweizer Gastfreundschaft: Olga, Mischa, Mascha und Anatoli Tscherepow (v. l.) Bild: Linth24
Sie flohen in den ersten Kriegstagen aus der Ostukraine. Seit Anfang März leben sie in der Schweiz. Nun feierten Anatoli und Olga Tscherepow mit ihren Kindern erstmals Silvester in der Schweiz. Gleichzeitig kamen aus ihrer Heimat die Meldungen von nächtlichen Drohnenangriffen. Ein surrealer Abend zwischen Schweizer Sicherheit und den Gräueln des Krieges. Von Thomas Renggli

Seit dem 3. März leben Anatoli (60) und Olga Tscherepow* (47) mit ihren Kindern Mischa (18) und Mascha (10) in der Schweiz. Sie stammen aus Sumy, einer Stadt ganz im Osten der Ukraine. Das Zentrum mit dem Theater, dem Tschechow-Museum und vielen Restaurants ist gepflegt und ein beliebter Treffpunkt für die Anwohner aus der Umgebung. Im Fluss Psel gehen die Menschen im Sommer schwimmen. Obwohl fast 300‘000 Personen hier leben, hat Sumy den Charme und die Intimität einer Kleinstadt bewahrt. Man kennt sich und hilft sich. Olga sagt: «Es gab für mich nie einen Grund, um diesen Ort zu verlassen – bis der Krieg entfacht wurde.»

Doch nun ist alles anders -  und Sumy ein Ort von Verzweiflung und Zerstörung. Aus einem kleinen Paradies ist ein Vorort der Hölle geworden. Den Ausbruch der Kampfhandlungen beschreibt Olga auch über zehn Monate später mit einer beklemmenden Präzision: «Plötzlich hörten wir Detonationen und Schüsse. Über die nahe Grenze fielen die russischen Truppen ins Land – und entgegen anderen Behauptungen schossen sie nicht nur auf militärische Einrichtungen und auf Soldaten, sondern auch auf Wohnhäuser, Autokolonnen und Zivilisten. Als wir realisierten, wie ernst die Lage ist, entschlossen wir uns spontan, mit der ganzen Familie im Lastwagen von Anatoli die Stadt zu verlassen.»

Die Erzählungen von Olga und Anatoli sind erschütternd. «Die Russen gehen mit grosser Entschlossenheit und Brutalität vor. Und die Fluchtkorridore führen direkt zur russischen Grenze. Was wir in den letzten 25 Jahren aufgebaut hatten, war auf einen Schlag weg.» Ob sie ihre lange ersparte Zweizimmerwohnung je wieder sehen werden, wissen sie nicht. Sicher aber ist: Sie sind nicht in die Schweiz gekommen, um zu bleiben. Wenn sie könnten, würden sie schon heute zurück nach Hause.

Stundenlange Drohnenangriffe

Die Erinnerungen an die Flucht sind auch heute noch omnipräsent – und jeden Abend, wenn Olga und Anatoli am Fernsehen die Nachrichten sehen, werden sie noch stärker. So sind sie fast ständig in Kontakt mit Olgas Mutter Nadja – zumindest, wenn die Verbindung nicht zusammenbricht. Trotz des russischen Beschusses will Nadja ihr Haus nicht verlassen. Und erstaunlicherweise hat sie auch ihr Lachen nicht verloren. Über WhatsApp winkt sie ihrer Tochter und den Enkeln zu und sagt: «Macht Euch keine Sorgen. Ich werde das schon überleben. Heute hatten wir das erste Mal seit langem wieder mehrere Stunden Strom.» Dass es kaum mehr Lebensmittel gibt – und die Russen in der Nacht auf den 1. Januar stundenlange Drohnenangriffe flogen und die Energieversorgung zerstören wollen, erwähnt sie mit keinem Wort.

So feiern wir diesen Silvester in einer Mischung aus Dankbarkeit und Zuversicht, aber auch Unverständnis und trauriger Angespanntheit. Letztlich dreht sich alles nur um eine Frage: Wann endet dieser sinnlose Krieg?

Wir schauen «Dinner for one» und öffnen um Mitternacht eine Flasche Champagner. Wir stossen an – und Olga sagt, dass sie in der Schweiz Gastfreundschaft und Solidarität erlebt habe, wie sie es nie erwartet hätte: «Unser Ziel war aber von Anfang an: Entweder so schnell wie möglich zurück – oder in der Schweiz bleiben und von den Sozialleistungen unabhängig leben».

Leben ohne Sozialhilfe

In der Zürcher Vorortsgemeinde Maur erhielten die Tscherepows – wie auch andere Landsleute – erste Unterstützung. Nachdem sie anfänglich bei uns gewohnt hatten, konnten sie in eine Sozialwohnung umziehen. Weil aber Anatoli unerwartet schnell bei der Firma Planzer die Möglichkeit erhielt, zu arbeiten – konnten sie sich bereits nach zwei Monaten nach einer regulären Wohnung umschauen. Und siehe da – die Tscherepows wurden fündig. Nun wohnen sie in einer Vierzimmerwohnung, die sie selber finanzieren können.

Am leichtesten fand sich die zehnjährige Tochter Mascha in der Schweiz zurecht. Sie geht in Uster ihrem Hobby, der Sportgymnastik, nach und lebte sich in der Schule bestens ein. Sie kann es sich gut vorstellen, hier zu bleiben. Anders sieht es bei ihrem älteren Bruder Mischa aus. Er vermisst seine Freunde in der Heimat sehr – und würde lieber heute als morgen nach Hause.

«Wir wünschen allen ein friedliches neues Jahr»

Doch dafür ist es leider noch zu früh. Olga erzählt: «Hört man sich bei Familien um, die in die Ukraine zurückgekehrt sind, klingt es wenig ermutigend: Grossteile der Infrastruktur sind zerstört, die Versorgungslage ist prekär und Ausgangsperren verhindern eine Rückkehr zur Normalität. Und über allem schwebt das Gefühl der Angst».

Das betreffe auch sie in der sicheren Schweiz. Wenn sie nachts die Augen schliesse, sehe sie immer wieder die Bilder ihrer Flucht – als sie am Strassenrand übernachten mussten und die Militärfahrzeuge in Richtung Front rollen sahen: «Leider ist der Krieg noch nicht zu Ende – weder in Kiew noch in Sumy. Wir wünschen uns nichts mehr, als dass sich dies ändert. Doch solange dies nicht der Fall ist, bleiben wir in der Schweiz – und sagen aufrichtig «danke», dass wir hier eine echte Chance erhalten haben. Und wir wünschen allen ein frohes neues Jahr – vor allem ein friedliches neues Jahr.»

*Olga Tescherepowa ist die Cousine der Frau des Autors.

Thomas Renggli