Kurz nach 15 Uhr brach im französischen Parlament, eine Art vorrevolutionärer Tumult aus. Auf der linkextremen Seite der Nationalversammlung standen die Politiker der Bewegung «La France Insoumise» («Die Unbeugsamen») auf und sangen die «Marseillaise». Diese französische Nationalhymne wurde zum ersten Mal beim Sturm auf die Bastille während der französischen Revolution 1789 gesungen.
Auf der rechten Seite des Parlamentssaals ertönten Buh-Rufe von der rechtsextremen LePen Partei in Richtung Regierungsbank und die Forderung «Rücktritt!».
Die Vertreter der regierende Minderheitspartei «Renaissance» von Emmanuel Macron sassen still da und guckten betreten in die Luft. Die bürgerlichen «Republicains» machten sich unsichtbar.
Notartikel kommt zur Anwendung
Während diesem Tohuwabohu wollte die französische Regierungschefin Élisabeth Borne ihre Rede halten. Die Ministerpräsidentin kündigte dem Parlament an, dass über die Rentenreform und das neue Rentenalter von 64 Jahren keine Abstimmung im Parlament stattfinde.
Aus Verantwortung für Frankreich werde die Regierung das neue Gesetz ohne Parlamentsentscheid in Kraft setzen. Diese Möglichkeit ist im Artikel 49.3 der französischen Verfassung vorgesehen.
Krisensitzung der Minister
Bevor die Regierungschefin den «49.3» anrief, hatte Präsident Emmanuel Macron alle Minister der französischen Regierung zu einer Krisensitzung zusammengerufen. Die Runde stellte fest, dass es keine parlamentarische Mehrheit für das erhöhte Rentenalter geben würde.
Die bürgerlichen Politiker der «Republicains» hatten noch im Wahlkampf für das Rentenalter 65 geworben. Aber unter Führung ihres windigen Parteichefs Eric Ciotti, sprachen sich zu wenig Bürgerliche für die Reform aus. Die «Republicains» liessen die Regierung bei dieser wichtigen Abstimmung im Regen stehen. «Es fehlten nur 5 Stimmen», sagte die ehemalige Gesundheitsministerin Roselyne Bachelot.
Es ist das elfte Mal in in den letzten 12 Monaten der Regierung Macron, dass dieser Sonderparagraf angerufen wurde und zum 100. Mal in der Geschichte der Französischen Republik. Aber selten hat es so hohe Wellen geworfen, wie heute.
Einige Links- und Rechtsextreme
Nach dem Saal-Tumult triumphierten die Sprecher der Extremen. Sie unterschieden sich nur in ihrer Haltung, nicht in ihrem Inhalt.
Marinne LePen, Fraktionschefin ihrer Nationalreaktionären Partei sagte mit freudigem Gesicht, dass die «Reform schlecht» sei. Die Sprecherin der «Unbeugsamen/ Insoumise» deklarierte wutentbrannt, dass damit der Kampf gegen die Rentenreform weitergehe.
Gleichzeitig versammelten sich immer mehr Gegner der Reform zu einer unbewilligten Kundgebung auf dem Place de la Concorde in Paris, wo während der Revolution die Guillotine stand. Aktuell wächst die Masse noch.
De Gaulles Demokratie-Abbau
Tatsächlich ist die Anwendung des Artikels 49.3 eine Steilvorlage für die Gegner einer längeren Lebensarbeitszeit.
Der Artikel zum Aushebeln des Parlaments war von General De Gaulle 1958 in die Verfassung der fünften Republik geschrieben worden. De Gaulle hielt nicht viel vom Parlament und reduzierte die Volksvertretung zu einem schwachen Gegengewicht zur Regierung.
Er tat alles dafür, dass zugunsten einer «Regierungsstabilität» das Parlament geschwächt wurde, was ein Zeichen des tiefsitzenden Misstrauens des General gegen die parlamentarische Demokratie war. Diese Demontage könnte sich nun rächen.
Vorzeichen für heissen Sommer
In den letzten Wochen hatte die Bewegung gegen die Rentenreform immer weniger Zulauf erhalten. Zwar sprachen sich über 70% der Franzosen gegen das höhere Rentenalter aus.
Doch an den Demonstrationen und Streiks nahmen immer weniger Menschen teil. Denn Macron lässt sich sowieso nicht beeindrucken, sagten die Zuhause Bleibenden.
Beobachter gingen davon aus, dass die Bewegung einschlafen würde, wenn das Parlament der Reform zustimmt.
Nachdem die Regierung nun ohne Parlament die Reform durchdrückt, erlebt die Kritik einen neuen Aufschwung. In Frankreich ist ein heisser Sommer möglich.