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Kultur
01.09.2023
05.09.2023 12:41 Uhr

Von Mauthausen nach St.Gallen 2: Flüchtlinge in St.Gallen

«Nous voici à Saint-Gall, logées dans une école claire et propre, toute moderne.» Hadwigschulhaus, erbaut 1905/07 Bild: Archiv
Mauthausen war das grösste Konzentrationslager Österreichs. Seine Insassen wurden am 5. Mai 1945 von den Amerikanern befreit; einige von ihnen kamen dank des Roten Kreuzes nach St.Gallen. Alt-Stadtarchivar Ernst Ziegler zeichnet ihre Geschichte nach. Teil 2: Die Geretteten treffen ein.

Am 25. April 1945 stand im «St.Galler Tagblatt», gestern seien «Flüchtlinge in St.Gallen» angekommen. Dabei handelte es sich um befreite «Häftlinge» aus dem Konzentrationslager Mauthausen, um physisch und psychisch «bedauernswerte Menschen», die «Schweres durchgemacht haben». Sie wurden im Hadwigschulhaus untergebracht. – Drei Französinnen kamen direkt ins Notspital, das im Waisenhaus auf dem Rosenberg eingerichtet worden war. Weitere «Flüchtlinge» folgten am 26. April 1945. Auf einer Liste «Krankenrapport Notspital Waisenhaus» vom 26. April 1945, abends, sind 28 Frauen verzeichnet.

Anfang Mai 1945 waren im Notspital 65 Patienten hospitalisiert, «40 Französinnen, 20 Belgierinnen, vier Holländerinnen, eine Engländerin». Sie scheinen gemäss dem «Verzeichnis der im Notspital anwesenden Patienten, Lager Mauthausen» wie die dort aufgeführten 71 Kranken aus Mauthausen zu stammen. Eine zusammenfassende Liste «Flüchtlinge, welche das Luftschutz-Notspital Waisenhaus St.Gallen passiert haben», enthält 140 Namen.

Am 2. und 3. Mai 1945 konnte ein grosser Teil der «Flüchtlinge» mit der Bahn «in ihre Heimat» abreisen. Das Notspital wurde dann Mitte Juni 1945 aufgehoben. Am 17. Juni notierte Hans Richard von Fels in sein Tagebuch: «Ich habe eine schwere Reaktion über den Dienst im Notspital, habe vier Kilo abgenommen und fühle mich müde und innerlich unruhig-kribbelig.»

  • Im benachbarten Ökonomiegebäude waren Küche, Wäscherei usw. untergebracht Bild: Stadtarchiv SG
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  • Das Notspital wurde um 1938 im Ostflügel des 1889/91 erbauten Waisenhauses auf dem Rosenberg eingerichtet Bild: Stadtarchiv SG
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NELLY MOUSSET-VOS: EXTRAIT DU JOURNAL DE CAPTIVITÉ

Mit dem Transport vom 24. April 1945 war auch Nelly Mousset-Vos nach St.Gallen gekommen. In ihrem «Journal de captivité» schrieb sie:

Dienstag, 24. April 1945:

Das Wunder ist geschehen. Heute schreibe ich aus St.Gallen in der Schweiz, und ich bin frei. Ich schreibe dieses Wort, unterstreiche es und ich wiederhole es; aber ich kann es nicht glauben.

Die grossen Freuden und die grossen Schmerzen brauchen lange, bis sie ins Herz und in den Geist eindringen. Sie bleiben an der Oberfläche, wie wenn die lange Gewohnheit der Freude oder des Unglücks an der Peripherie des Seins eine undurchlässige Schicht herstellen würde. Andererseits habe ich bis zu dieser Stunde nicht gewagt, mich in der Freude zu verlieren. Ich bezwang mich aus Furcht vor Enttäuschung, vor unangenehmer Überraschung in der letzten Stunde. Wir haben so viel gelitten, dass wir nicht mehr an einen glücklichen Zufall glaubten.

Aber beginnen wir mit den Ereignissen, diesen wunderbaren, ausserordentlichen Ereignissen seit ihrem Anfang. Am Freitag [20. April 1945] zur selben Zeit, als ich mit Erbarmen die kleine Annick beobachtete, die zu trinken bat, aber nichts erhielt, kam Doktor Ninette, um Bestandesaufnahme der kranken Belgierinnen, Französinnen und Holländerinnen zu machen. Ich fürchtete einen «Krankentransport», der in der Regel einen Transport «in die andere Welt» war, und ich wollte das «Revier» verlassen. Aber ein Lächeln und ein Augenzwinkern Ninettes liessen mich bleiben. Ich war ganz verwirrt, als das Gerücht aufkam, dass die Kranken repatriiert würden. Die erste Reaktion war: welcher Schwindel! Aber die Kranken werden tatsächlich hinausbefördert; vor dem Block ein aussergewöhnlicher Anblick: Zwei liebenswürdige Herren, höflich und zuvorkommend, in blauer Uniform mit einer Armbinde des Roten Kreuzes und den magischen Worten: «Comité International de la Croix Rouge, Genève». Ich kann meinen Augen nicht trauen. Aber das Gerücht bestätigt, verstärkt sich: Alle reisen morgen in die Schweiz. Man führt uns in das obere «Lager». Die Ereignisse überstürzen sich; man duscht uns; man untersucht uns im grossen «Revier»; man führt uns zum Schlafen in Block 20.

Nelly Mousset-Vos (rechts) mit ihrer Freundin Nadine Hwang Bild: Archiv

Am folgenden Tag [21. April 1945] um drei Uhr dreissig Tagwache. Ende des üblichen Gebrülls. Wir gehen hinaus in Regen und Wind. Mein Herz schlägt heftig. Ich frage mich, ob das alles stimme, ob man uns nicht einfach in eine andere Hölle evakuiere? Es heisst, die Kranken würden in Camions transportiert, was unbedingt notwendig ist angesichts ihres Zustandes.

Die Türen des Lagers öffnen sich: Kein Camion, keine Delegierten des Roten Kreuzes, bloss finstere SS-Leute, wie Raben. Eine schreckliche Angst packt mich, man führe uns einfach nach unten ins Krankenlager, von wo am Tag zuvor einige Hundert Elende im Hemd und barfuss, in Schmutz und Regen, heraufgekommen sind.

Vor dem Tor redet uns der Lagerkommandant mit folgenden Abschiedsworten an: «Ihr könnt euch freuen, dass diese Türen sich für euch öffnen, denn ihr wisst, dass ihr bestimmt waren, hier zu sterben.»

Draussen überblicken wir den Steinbruch, in dem eine grosse Unruhe herrscht. Nach einer Stunde stossen die Französinnen und die Belgierinnen zu uns, so auch Jeanne [Debue].

Man befiehlt uns, die Strasse hinunterzusteigen; dann führt man uns auf einen freien Platz unterhalb des Weges. Die SS stellt sich vor uns auf, die Maschinenpistole unter dem Arm, und ich habe geglaubt, sie würden uns nun niedermachen. Merkwürdigerweise war das mich beherrschende Gefühl ein unglaublicher Zorn.

Plötzlich, oben auf der Strasse ein weisser Camion des Roten Kreuzes, dann ein zweiter, ein dritter und weitere, die in guter Ordnung folgen – wie in einem Traum oder einem Varieté. Der Himmel ist grau und schwer; aber es scheint ihn ein Sonnenstrahl zu erhellen.

Die Erscheinung von Engeln vor einer verdammten Seele kann ihr nicht grössere Freude und grösseres Glück bringen. Der Arzt ist ein freundlicher Franzose. Er schickt das alte, schimmlige Brot zurück, das man uns zum Verteilen gegeben hat und verlangt anständiges Brot. Man lässt uns einsteigen. Es ist etwas eng mit 21 Leuten im Camion; aber wie glücklich sind wir. Die Chauffeure, entsetzt über unser Aussehen, sind amerikanische Kriegsgefangene, fröhlich und freundlich, Männer, die uns grüssen, die uns anlächeln, die uns die Hand bieten, um einzusteigen, anstelle uns mit einem Stiefeltritt zu befördern!

Wir reisen ab. Adieu Mauthausen, Filiale der Hölle! Ein Adieu auch an unsere unglücklichen Mithäftlinge, die hier starben.

Lesen Sie in der nächsten Folge: Zurück nach Frankreich.

Ernst Ziegler