Home Region Sport Magazin Schweiz/Ausland Agenda
Kultur
06.09.2023

Von Mauthausen nach St.Gallen 3: Zurück nach Frankreich

Flüchtlinge aus Mauthausen erhalten Speis und Trank im Hadwigschulhaus Bild: Archiv
Mauthausen war das grösste Konzentrationslager Österreichs. Seine Insassen wurden am 5. Mai 1945 von den Amerikanern befreit; einige von ihnen kamen dank des Roten Kreuzes nach St.Gallen. Alt-Stadtarchivar Ernst Ziegler zeichnet ihre Geschichte nach. Teil 3: Zurück nach Frankreich.

Mit dem Transport vom 24. April 1945 war auch Nelly Mousset-Vos aus Mauthausen nach St.Gallen gekommen (siehe Teil 2, «Flüchtlinge in St.Gallen». In ihrem «Journal de captivité» schrieb sie:

«Wir durchqueren Österreich. Mit knapper Not können wir den Bombardements ausweichen, beispielsweise jenem von Linz. Der Volkswagen mit einem deutschen Lageroffizier, welcher der Kolonne folgt, und, leider, auch der Schweizer Arzt, der gekommen war, uns zu befreien, mussten umgekommen sein. Am Stadtausgang sind die Camions angehalten worden, und wir haben lange auf den kleinen Wagen gewartet. Er ist nicht mehr aufgetaucht.

Alle Orte, durch die wir kommen, sind furchtbar bombardiert worden. Wir begegnen Schützen, vereinzelten Truppen auf den Strassen, sehen Luftkämpfe. Die Camions fahren mit grosser Geschwindigkeit. Wir passieren, sagt man uns, die Feuerlinie. Es war nicht so, wie ich mir die Sache vorgestellt hatte.

Während der ersten Nacht schlafen wir sehr schlecht in diesem Camion. Alle Städte sind zerstört und können uns nicht aufnehmen. Am zweiten Tag durchqueren wir Bayern, eine sehr schöne Landschaft, aber verdüstert durch dunkle Tannen und durch heftige Regenschauern, Schnee und Hagel. Deutschland scheint wütend über uns zu sein und uns mit Windstössen verjagen zu wollen. Gegen Mittag verändert sich die Landschaft; sie wird milder. Im Hintergrund die mit Schnee bedeckten Alpen; der Strasse entlang blühende Obstbäume und grüne Wiesen. Dann erschien gleichzeitig mit der Sonne der Bodensee. Das ganze deutsche Ufer ist zerstört, bezaubernde und heitere Orte, wo man gut hatte leben können.

Bei Sonnenuntergang überqueren wir den See. In Konstanz neue Aufregung: Die Stadt ist zur offenen, unverteidigten Stadt erklärt worden. Die Schweizergrenze soll geschlossen sein. Ich schlafe zwischen zwei Camions im Freien. Ich kann es nicht mehr ertragen, eingesperrt zu sein. Ein heller, glänzender Mondschein. Ich fühle mich nicht wohl; Deutschland lastet noch auf mir; ich bin noch in seiner Gewalt. Der heutige Morgen ist vorübergegangen zwischen Hoffnung und Angst. Kommt man durch oder nicht? Verweigern uns die Deutschen im letzten Moment die Ausreise? Das geht so weit, dass wir uns vorstellen, die Schweiz könnte uns den Eintritt ins Land verwehren.

Nelly Mousset-Vos (1906-1987) Bild: Archiv

Ich gehe auf einen Rundgang durch die Stadt mit Jeanne [Debue]. Einzigartiges Gefühl! Alleine spazieren, ohne Gewehre auf dich gerichtet, ohne Leute, die dir in die Ohren brüllen. Wir betreten eine schöne Kirche, die innen mit Stuck im Stil Louis XV verziert ist. Sieben kleine Mädchen knien vor dem Altar und beten mit lauter Stimme. Eine Danksagung an die göttliche Vorsehung; ein letztes Gebet, mich heimzubringen zu den Meinen, zu Claude, Claire …

In den Strassen Schlangen vor den Läden, vor der Sparkasse. Ich denke an das wilde Durcheinander von Soldaten, von Material, von Zivilisten, beladen mit Gepäck, die am Vortag angetroffen wurden. Das alles erinnert uns an unsere Reise 1940. Die Franzosen sollen ganz nahe sein; man hört Kanonendonner.

Am Mittag verteilt man uns amerikanische Pakete mit Sardinen, Fleisch, Kondensmilch, Milchpulver, Eierpulver, Kakao, Schokolade, Biskuits, Konfitüre, alles verteilt in zahlreiche Teile. Man gibt uns ein kleines Muster von jeder Süssigkeit.

Endlich können wir am Mittag einsteigen und uns in Bewegung setzen. Die Grenze ist ganz nahe. Wir passieren den Schlagbaum. Wir sind in der Schweiz; wir sind frei!

Nach Regen und Sturm am Tage vorher ist heute alles fröhlich. Der Himmel ist von einem tiefen Blau, der See friedlich wie ein italienischer See. Der Himmel hat sich aufgehellt, und ein heller Sonnenstrahl klingt wie eine Fanfare. Oh, wie schön ist die Freiheit! Der Strasse entlang das Weiss der blühenden Obstbäume; die Wiesen von einem weichen Grün mit weissen und goldenen Flecken. Die Leute winken uns, lachen uns zu. Welch' ein Empfang!

Nach drei Tagen sitzend auf einem Benzinkanister und zwei Nächten mit wenig Schlaf draussen zwischen den Camions, sind wir nun in St.Gallen, untergebracht in einem hellen und sauberen, modernen Schulhaus. Es sind lange Tische aufgestellt, geschmückt mit weissen «Beggeli» (Schalen) und vielversprechenden Tellern.

Eine Gerettete aus Mauthausen im St.Galler Notspital im Waisenhaus auf dem Rosenberg, Françoise Leroy Bild: Archiv

Ich bin sehr müde. Wir wissen nicht, wann wir in unser Land zurückkehren können. Die verschiedensten Gerüchte zirkulieren.

Ich bin ungeduldig, ein wenig ängstlich, euch, meine Lieben zu sehen, Ich werde zum ersten Mal nach zwei Jahren in Freiheit schlafen.

Mittwoch, 25. April 1945:

Wir erwachen mit dem Sonnenschein. Und durch die grossen Fenster eine herrliche Landschaft, sauber und klar, wie frisch gemalt. Ich beginne mein Glück zu realisieren; aber gleichzeitig fürchte ich für die Kinder. Man behauptet, Belgien habe sehr unter dem Krieg gelitten. Was werde ich vorfinden? Ich realisiere auch, welch' greulichem Leben, welch' schrecklichen Gefahren wir entronnen sind. Das entging uns teilweise, als wir uns darin befanden, und dazu ignorieren wir nun gerne den Ernst der Geschehnisse.

Ich träume mit Schrecken vom Schicksal, das uns erwartet hätte in jener Situation, wenn wir dort das Ende des Krieges hätten erwarten müssen. In welche Misere wären wir [in Mauthausen] geraten – ohne an die Grausamkeiten zu denken, deren in extremis die Banditen, die uns gefangen hielten, im letzten Augenblick noch fähig gewesen wären. Die Gaskammer funktionierte vor einem Monat noch. Der Kommandant hatte den Namen «der Mann, der lachend tötet».

Gottlob sind wir gerettet! Hier pflegt man uns; man lächelt uns an. Der Himmel und die Menschen sind liebenswürdig. Ich frage mich, wann die Rückkehr nach Brüssel zustande kommen wird. Ich bin schrecklich ungeduldig und gleichzeitig habe ich Angst.

Samstag, 28. April 1945:

Wir verlassen St.Gallen gegen die französische Grenze. Der Empfang in der Schweiz war ergreifend und warm. Die Damen des Roten Kreuzes haben uns eigenhändig gewaschen, gekämmt, angekleidet. Nach so viel Brutalität, Schikanen, Leiden glaubten wir zu träumen. Ein neuer Konvoi aus Mauthausen ist zu uns gestossen: Überlebende der Hölle. Am Sonntag [22. April 1945] funktionierte die Gaskammer von Neuem; einige Hundert Unglückliche wurden am Vorabend der Befreiung noch ermordet.

Erst jetzt wird mir bewusst, welch' schrecklichen und vielfachen Gefahren wir wunderbarerweise entronnen sind. Der Hunger mit den Entsetzlichkeiten, die er nach sich zog (es gab zwei Fälle von Kannibalismus im «Revier» der Männer), die Gaskammer, das Bombardement, wie beispielsweise im Block der Juden oder bloss die Grausamkeit der hysterischen und oft betrunkenen «Offizierinnen» – ohne zu reden von Typhus und Ruhr.

Ich gab mir Rechenschaft von diesem allen, als ich mich dort befand, aber glücklicherweise versetzte uns die düstere Wirklichkeit in einen leichten Nebel und in halbe Bewusstlosigkeit. Ich habe Angst, an diesen Albtraum zu denken. Ich beginne, die Rückkehr ins Heimatland auszudenken zu wagen, das Gesicht meiner Lieben, ihre Küsse. Es schien, wir könnten diesen Abend in Frankreich sein. Die Ungeduld übermannt mich.»

Annick Pizigot (1924-1945) Bild: Archiv

ANNICK PIZIGOT, «HÉROÏNE DE LA RÉSISTANCE»

In ihrem «Journal de captivité» schreibt Nelly von der «petite Annick»: «Meiner Nachbarin, der kleinen Annick, geht es schlecht. Sie ist Bretonin, ist zwanzig Jahre alt, und sie wird an Phthisis sterben. Ihr Körper ist nur noch Haut und Knochen, und ihr Gesicht unter ihren schwarzen Haaren, die geschoren wurden und jetzt in abschreckend dichten und glatten Haarsträhnen nachwachsen, ist entsetzlich bleich. Ihre grauen Augen sind eingefallen und ihr Mund ist von Fieber geschwollen.» (Hans Richard von Fels erwähnt die «mèches», die Haarsträhnen der Frauen: «Alle hatten kurze Haare und ein Band vom Nacken zur Stirn kurz rasiert.»)

Annick Pizigot wurde am 16. September 1924 in Locminé in der Bretagne geboren. Im März 1943 schloss sie sich, neunzehn Jahre alt, dem französischen Widerstand an. Am 28. April 1944 wurde sie zusammen mit ihren Eltern von der Gestapo verhaftet, schwer gefoltert und wegen Spionage am 31. Juli 1944 zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde dann in Zwangsarbeit umgewandelt. Annick kam in verschiedene Gefängnisse, nach Ravensbrück und schliesslich ins Konzentrationslager Mauthausen, von wo sie am 21. April 1945 befreit wurde.

Sie kam mit demselben Transport wie Nelly Mousset-Vos am 24. April 1945 nach St.Gallen. Ihr Gesundheitszustand war wegen der grauenvollen Misshandlungen, der Kälte und der Unterernährung schlecht. Sie soll sehr schwach gewesen sein und nur noch 36 Kilo gewogen haben. Deshalb wurde sie am 27. April ins Notspital eingeliefert. Am 3. Mai musste sie ins Kantonsspital St.Gallen überwiesen werden, wo sie am 26. November 1945 starb. Gemäss einem Eintrag im Verzeichnis «Lager Mauthausen» litt sie an «Hungerkachexie» (Kachexie: «Abzehrung», mit allgemeiner Schwäche und Blutarmut verbundener starker Kräfteverfall).

Im «St.Galler Tagblatt» vom 28. November 1945 findet sich unter «Bestattungen» folgende Mitteilung: «Donnerstag, 29. November, vormittags zehn Uhr, auf dem Ostfriedhof: Pizigot Annic, Studentin, geboren 7. (sic) September 1924, französische Staatsangehörige, zuletzt wohnhaft gewesen in Frankreich, Trauerhaus Leichenhaus, Trauergottesdienst acht Uhr in St.Fiden, stille Bestattung.» – Am 6. Dezember 1945 dankte Annicks Vater Albert Pizigot mit einem «Avis de remerciement» im «St.Galler Tagblatt».

In einem Beschluss des Stadtrates von St.Gallen vom 15. November 1949 über die «Exhumation französischer Staatsangehöriger» steht, «die Exhumierung der Leiche der am 1. Dezember 1945 in St.Gallen bestatteten Annick Augustine Marie Pizigot» sei bewilligt worden. Und so wurden am 11. Januar 1950 die sterblichen Überreste von Annick nach Locminé überführt und zwei Tage später dort unter grosser Anteilnahme feierlich beigesetzt. Sie ruht nun auf dem Friedhof von Locminé, «auprès des patriotes fusillés».

Annick Pizigot im Jahr 1944. In der Rue de Verdun (links) befand sich das Hôtel des Voyageurs, das von den Eltern von Annick Pizigot betrieben wurde, die dort in einem Nebengebäude einen Sender installiert hatten Bild: ouest-france.fr
Ernst Ziegler