Der Saal der alten Stuhlfabrik ist fast bis auf den letzten der knapp 150 Plätze besetzt – einige Nachzügler trudeln kurz vor Showbeginn noch ein. Ausverkauft war die Live-Podcast-Show bereits drei Wochen vorher. „Sogar aus Graubünden, Aargau und Zürich seid ihr hierher in unser heimeliges Theater gekommen“, begrüsst Vorstandsmitglied Benjamin Heutschi das Publikum. Über die Hälfte der Gäste sind zum ersten Mal da. „Das freut uns natürlich sehr – wir hoffen, ihr habt einen super Abend und kommt auch bald mal wieder. Bringt eure Nachbarn und Freunde mit – es lohnt sich“, witzelt er. Auch Zürcher seien immer herzlich willkommen, sagt er mit einem Augenzwinkern.
Bekannte Gesichter = gesteigerte Aufregung
Nach der Begrüssung bittet er die beiden True-Crime-Podcasterinnen Sheryn Locher (21 Jahre, aus Herisau) und Anja Leibacher (24 Jahre, aus Aarau) mit tobendem Applaus auf die Bühne. Am Halloween-Abend wird der bisher zweite Live-Podcast für ihren „Lebenslänglich“-Channel aufgezeichnet. Etwas aufgeregt und von dem grossen Publikum überwältigt treten sie zwei auf die Bühne: „Wow! Wir freuen uns sehr, dass so viele zu unserem Podcast gekommen sind – das ist unsere grösste Live-Show bisher“, sagt Locher. Da sie aus Herisau stammt, sind einige Zuschauer im Publikum, die sie persönlich kennt – neben der Familie und engeren Freunden auch nähere Bekannte. „Das hat mich heute Abend schon etwas aufgeregter sein lassen als sonst“, sagt die junge Podcasterin. Unter „Fremden“ sei sie entspannter, aber sobald jemand sie näher kenne, sei die Aufgeregtheit auf Grund der Urteilsnähe präsenter.
Community zählt 5‘000 Hörer/innen
Auch Live-Podcast seien etwas anderes: In ihrer zweiwöchentlich erscheinenden Podcast-Reihe können die beiden mittlerweile auf rund 5‘000 Hörer/innen zählen. Diese Tatsache ist jedoch so generisch, dass sie die grosse Hörerzahl nicht aufgeregt werden lässt. „Wir sitzen bei den Aufnahmen ja nur zu zweit vorm Mikro – ganz entspannt“, so Locher. Es mache ihnen beiden grossen Spass und sei noch ein Hobby. Dennoch strebten sie nun an, mit dem Podcast auch Geld zu verdienen. „Eine reelle Chance sind Werbeplatzierungen, die wir im Podcast erwähnen.“ Als Organisatorin und Koordinations-Frau kümmert sich Locher um alles Administrative. „Unser Kreativgenie ist Anja – ich habe meistens eine Idee und sie setzt sie dann um und rundet alles ab“, so Locher. Die beiden seien ein gutes Team – und mittlerweile durch die intensiven Produktionen und den fast täglichen Austausch auch gute Freundinnen.
Nach zwei Jahre „lebenslänglich“ Freunde
„Wir nahmen letzte Woche unsere 50. Podcast-Folge auf – zwei Jahre schon betreiben wir den „Lebenslänglich Podcast“, sagt Leibacher. Kennengelernt haben sich die beiden beim St.Galler Radio Toxic FM: „Die Erstellung des Podcastes entstammt einer Schnapsidee, die uns auf dem St. Galler Fest kam“, so Locher. Beide hätten schon immer eine Leidenschaft für True-Crime-Fälle und ab dann mit der Idee der Kreation eines eigenen Podcast gespielt. „Zwei Wochen nach dem Fest wurde uns bewusst, dass wir es doch nicht nur spassig, sondern ernst meinen.“ Daraufhin machten sich die beiden an die Arbeit und suchten nach dem ersten Fall, der im November 2022 online ging.
Femizid in Untereggen
Die abendliche Einführung zum Live-Podcast in Herisau beginnen die beiden mit einer erfundenen Schock-Geschichte, in der eine lebendig gewordene Mörderpuppe ihr Unwesen treibt. „Wer uns kennt, weiss, wir haben grosse Angst vor Puppen und finden diese mega gruselig“, erklärt Locher. Als Einstieg für den Halloween-Podcast und zur Erzeugung einer Grusel-Atmosphäre erschien ihnen diese Darbietung naheliegend. Im richtigen Setting konnte dann der Live-Podcast gestartet werden. In diesem ging es um einen Femizid – die Tötung einer dreifachen Mutter aus dem nahegelegenen 1‘000-Seelendorf Untereggen.
Namen fake, Story true
„Die Namen im Fall wurden von uns geändert, aber die Tat, der Ablauf und alle Berichte sind wahrheitsgetreu wiedergegeben“, erklärt Leibacher vorangehend. Für die Live-Folge haben sich die beiden Podcasterinnen zum Tatort begeben und Filmaufnahmen gemacht, die dem Publikum während der Geschichte gezeigt werden. „Wir wollten die Tat nahbarer und greifbarer machen – Untereggen ist nicht weit von hier. Die Szenerie mag der ein oder andere kennen.“ Bevor der Mord detailliert erzählt wird, warnen Locher und Leibacher vor dem mitunter schockierenden und gewalttätigem Inhalt: „Wer sich irgendwann unwohl fühlt oder das Gehörte nicht verträgt, sollte den Saal für eine Pause verlassen.“
Der brutale Schachtmörder
Denn anders als beim ersten Live-Podcast in Zürich, bei dem sie von einem Hochstapler-Fall berichteten, ginge es an diesem Abend um die vorsätzliche Tötung einer 43-jährigen Mutter durch ihren eigenen Ehemann. Die beiden beginnen zu erzählen – gespannt und still lauschen die Zuhörer/innen dem Geschichtsverlauf: Die dramatische Mordnacht wird eingehend geschildert – der betrunkene Ehemann handelte in Wut, hatte die gewaltsame und schonungslose Tat jedoch geplant. Die Leiche entsorgte er im nahgelegenen Schacht beim Wohnhaus, weswegen er in den Medien „Schachtmörder“ genannt wurde. Auch die Suche nach der vermisst gemeldeten Frau, die Tage danach und bis zur Verurteilung wurden solide recherchiert und für den Podcast zusammenfassend wiedergegeben. Eine Geschichte, die das Publikum den Atem anhalten lässt – so greifbar geschildert, so nah vor der eigenen Haustür passiert, dass einem Bang wird.
Mörder im Publikum?
„Ob der Schachtmörder nun bereits wegen guter Führung wieder auf freiem Fuss ist, ist offen“, sagt Leibacher abschliessend. Den Antrag auf vorzeitige Entlassung habe er bereits stellen können- sein Aufenthaltsort sei jedoch unbekannt. „Vielleicht sitzt er heute sogar bei uns im Publikum.“ Alle anwesenden sehen sich um und hoffen inständig, dass dies wirklich nur ein Spass und nicht die Wahrheit ist. Genau wissen, kann das an diesem Abend niemand.
Die Morde hören nicht auf
„Was jedoch feststeht ist, dass in der Schweiz alle zwei Wochen ein Femizid geschieht – alle sechs Minuten weltweit“, erklärt sie. Jede Woche entkomme zudem eine Frau einem Mordanschlag. Die Geschichten gehen den beiden so schnell also nicht aus. „Wir bekommen jede Woche sogar neue Einsendung von unseren Hörern und haben zusätzlich selbst eine Liste, die wir noch produzieren wollen“, sagt Locher. Ein Ende des Podcast ist zur Freude der Fans also noch lange Zeit nicht in Sicht.