Mehrwertsteuer befeuert Bürokratie
Inzwischen gibt es unter der Bundeshauskuppel regelmässig Anstrengungen, um die Bürokratie einzudämmen. Der St.Galler Nationalrat Lukas Reimann (SVP) etwa fordert in zwei Motionen von 2018 und 2020 hartnäckig eine «Regulierungsbremse». Caroni wiederum war in diesem Frühjahr am FDPVorstoss beteiligt, der einen Einheitssatz der Mehrwertsteuer fordert.
Eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) zeigt auf, dass jährlich 500 Millionen Franken administrative Kosten allein durch die Mehrwertsteuer ausgelöst werden. Die Einführung eines Einheitssatzes und die Aufhebung der Ausnahmen würde diesen bürokratischen Aufwand um immerhin 22 Prozent senken. Der Bundesrat bestätigte in der Antwort auf den Vorstoss, dass eine Vereinfachung der Mehrwertsteuer sinnvoll sei und positive Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum habe – dennoch lehnt die Landesregierung das Begehren ab. Weiterhin gibt es also unterschiedliche Mehrwertsteuersätze für unterschiedliche Situationen.
So auch an der HSG. «Man muss den dreissigseitigen Mehrwertsteuerkatalog dreimal durchlesen, damit man versteht, was da gemeint ist» sagt Wirtschaftsprofessor Müller, «und dann muss man nochmals rückfragen bei der Finanzverwaltung, ob man es tatsächlich auch richtig macht. Da ist eine Komplexität entstanden, bei der man sich an den Kopf fasst.» Auch im grenzüberschreitenden Güterverkehr ist die Mehrwertsteuer ein Ärgernis, gerade für zukunftsträchtige Branchen. «Wer digitale Produkte in die EU verkauft, muss sich vor Ort anmelden und Mehrwertsteuer bezahlen; ein bürokratischer Irrsinn!», schimpft der Winterthurer FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt auf der Plattform LinkedIn.
Auf jeden Euro Umsatz, der mit Kunden aus der EU gemacht werde, müsse Mehrwertsteuer bezahlt werden. Gerade für die Creator Economy, etwa Journalisten, die kostenpflichtige Newsletter verfassen, oder Influencer, welche auf den grossen EU-Markt angewiesen seien, bedeute dies einen enormen Aufwand. Der neue FDP-Vizepräsident will deshalb mit einem Vorstoss erreichen, dass die Eidgenössische Steuerverwaltung den Anschluss an den «One-Stop-Shop» der EU prüft. «Ideal wäre es, wenn man im Rahmen der Mehrwertsteuer-Abrechnung die Umsätze für den EU-Raum angeben könnte und die Eidgenössische Steuerverwaltung für die Verteilung in die EU-Länder sorgt.»
Industriezölle fallen weg
Während die kleine Creator Economy noch von Vereinfachungen träumt, darf sich die Schweizer Industrie gerade über eine Entlastung freuen: Nach dem Ständerat hat anfangs Oktober auch der Nationalrat der Abschaffung der Industriezölle in der Schweiz zugestimmt.
«Mit dem Wegfall der Zölle sinken die direkten Kosten und der administrative Aufwand in der Beschaffung einer breiten Palette von Produkten. Dies entlastet Grossunternehmen und KMU gleichermassen und steigert deren Wettbewerbsfähigkeit», freut sich der Verband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (Swissmem) in einer Reaktion.
Drei Viertel der Zölle von rund 500 Millionen Franken wären im Prinzip im Rahmen von Freihandelsabkommen ohnehin bereits abgeschafft gewesen. Die Zölle würden bisher von den Firmen trotzdem bezahlt, um noch höheren administrativen Aufwand zu vermeiden. Die Industriezölle haben Rohstoffe und Halbfabrikate bei der Einfuhr verteuert, nun kann die Schweizer Industrie von günstigeren Vorleistungen profitieren und Produktionskosten senken.
Der Verband Scienceindustries, der die Chemische Industrie vertritt, rechnet mit einer Entlastung inländischer Konsumenten von 350 Millionen Franken und einem volkswirtschaftlichen Gewinn von 860 Millionen Franken.
Mehr Bürokratie ohne Bilaterale
Die Abschaffung der Industriezölle ist aber nur ein kleiner Lichtblick für grenzüberschreitende wirtschaftliche Aktivitäten. Durch das Scheitern des Institutionellen Abkommens der Schweiz mit der EU (Rahmenabkommen) wird die Erneuerung der bewährten Bilateralen Verträge infrage gestellt.
Was dies bedeuten kann, zeigt Christoph Müller anhand der Medizinalprodukte-Branche – dieses Abkommen ist ausgelaufen, und die EU zeigt sich an einer Erneuerung nicht interessiert. «Bisher gab es eine EU-Richtlinie, die in nationales Recht übernommen wurde», erklärt Müller: Wenn ein Produkt in der EU zugelassen wurde, dann galt dies ohne Weiteres für die EU, den EWR, die Türkei und eben auch durch die Bilateralen Verträge für die Schweiz. Mit einem bürokratischen Verfahren wurde gleich ein grosser Wirtschaftsraum abgedeckt.
Mit dem neuen, strengeren EU-Gesetz MDR (Medical Device Regulation) wird auch eine europäische Datenbank Eudamed geschafften, in der werden die Hauptakteure, die in diesem Bereich tätig sind, mit ihren Produkten registriert. Die Schweizer Medizinalprodukte-Branche hat diesen Zugang aber nicht mehr. Schweizer Hersteller, die weiterhin Medizinprodukte in die EU exportieren wollen, müssen nun einen EU-Repräsentanten aufbauen.
Swissmedic wiederum baut gerade eine eigene Datenbank für die Schweiz auf – «die muss aber kompatibel sein mit der EU-Datenbank, es könnte ja sein, dass man sich in Zukunft doch noch wieder einigt», sagt Müller. Bis es so weit ist, brauchen alle ausländischen Hersteller, aus der EU und aus der ganzen Welt, einen eigenen autorisierten Schweizer Bevollmächtigten, damit ihre Schweizer Importeure ihre Medizinprodukte dem Schweizer Gesundheitswesen zur Verfügung stellen können.
Eigene Repräsentanten in der Schweiz aufzubauen ist nicht günstig: «Für viele Hersteller lohnt sich das gar nicht, der Schweizer Markt ist vergleichsweise klein, und wie sich die Rahmenbedingungen entwickeln, ist auch unklar.» Diese Situation hat zur Folge, dass KMU, die in der Schweiz in einer Nische tätig sind, gar nicht mehr alle Artikel importieren können, die sie möchten. Viele ausländischen Hersteller sagen sich, dass es sich nicht lohnt, nur für den Schweizer Markt doppelte Strukturen aufzubauen.
In der Schweiz werden täglich eine Million Medizinprodukte vom Herzschrittmacher bis zur Schiene und zum Pflaster, aber auch medizinische Gerätschaften verkauft, darunter viele kleine Standard-Produkte. Für alle Importeure in diesem Bereich ist ein riesiges, neues Bürokratiemonster entstanden.